(Fast) jeden Monat erscheint eine knackig kurze Buchbesprechung von mir im
Stadtblatt Osnabrück. Gelegentlich sind es Übersetzungen von Kolleginnen und Kollegen, ansonsten alles, was mich neugierig gemacht hat. Voilà:
Gipskind
Gabriele Kögl
Antiheimatroman
Österreich, 1960er-Jahre: Päpstin will sie werden, die kleine Andrea mit den „krummen Haxen“, dabei ist sie ansonsten wegen ihres Gipskorsetts kaum zu „gebrauchen“. Für ihre Eltern, Bauern in ärmlichen Verhältnissen, ist sie nur als Arbeitskraft oder Mittel zum Zweck von Belang. Eine Verbündete findet „die Kleine“ jedoch in der Großmutter, Zuversicht im kindlichen Glauben: „… aber sprich nur ein Wort, so wird meine Oma gesund.“ In distanziertem Ton und mit viel Lokalkolorit erzählt Kögl, wie sich „die Kleine“ aus dem starren Korsett um Hüfte und Leben befreit und zugleich Bernd Clüvers Schlager von Konstantin-Wecker-Songs verdrängt werden. Im Warteraum des Bahnhofs begegnet sie Arthur, ihrer ersten Liebe. „Was, ihr habt ein Buch zu Hause?“ Unversehens findet Andrea Zugang zu einer offeneren Welt, und während sie ihr Leben den lieblosen Eltern zum Trotz in die eigene Hand nimmt, fällt Arthur die Emanzipation von seiner wohlhabenden Familie deutlich schwerer. Schmerzhaft schön.
Picus, 25 EUR
(Stadtblatt 04/2021)
60 Kilo Sonnenschein
Hallgrímur Helgason
Schön schräg
„Obwohl sie im Sarg steckte und der Pfarrer bewusstlos war, entbehrte der Anblick nicht einer gewissen Zweideutigkeit“, heißt es über die Beerdigung von Gesturs Mutter, bei der der Pfarrer betrunken ins Grab stürzt. Fürderhin wächst der uneheliche Sohn der Bäuerin bei immer neuen Ziehvätern heran, bis er schließlich selbst Vater wird. Parallel dazu erwacht am Ende des 19. Jahrhunderts das moderne Island: Unbekannte Waren kommen von überall her ins tief verschneite Segulfjörður, begleitet von neuen Werten und Gebräuchen. Dass Helgason ein Meister der bösen Komik ist, hat er in „Eine Frau bei 1000°“ unter Beweis gestellt. Sein rabenschwarzer Humor tritt in diesem historischen Roman jedoch zurück hinter einer Fülle von skurrilen Figuren und krachend absurden Bildern vom gefühlten Ende der Welt, wo die Natur der bestimmende Daseinsfaktor ist. Der Handlungsfaden weist etliche dünne Stellen auf, aber wer sich daran nicht stört, macht einen großen literarischen Fang. Beherzt übersetzt von K.L. Wetzig.
Tropen Verlag, 25 EUR
(Buch des Monats, Stadtblatt 04/2021)
Die Erfindung der Null
Michael Wildenhain
Abgründe
Dr. Martin Gödeler, Mathematiker, stürzt sich in eine Affäre und beendet seine Ehe. Darauf folgt sein Absturz. Er zieht aus Berlin/Hamburg in eine schäbige Souterrainwohnung in Stuttgart und arbeitet zwanzig Jahre lang in einem Nachhilfeinstitut. Sein Leben schwankt zwischen Chaos und Ekstase. Als er Susanne M. begegnet, die er von früher kennt, fahren die beiden zum Wandern in die Verdonschlucht. Dort verschwindet die Frau, und Gödeler landet unter Mordverdacht in Stuttgart-Stammheim. Im Verhörraum erzählt er dem jungen Staatsanwalt seine Lebensgeschichte. Die Kapitel dieses kalten Romans sind überschrieben wie Schritte eines mathematischen Beweises, die Figuren oszillieren zwischen unsympathisch und farblos; vielleicht stellen sie die Null im Titel dar. Die Erzählweise ist zersplittert, der Plot erschließt sich nur bei konzentrierter Lektüre – die sich jedoch lohnt. Wildenhains Stil ist gehoben, er findet frische Bilder, und wie es sich für einen Krimi gehört, legt er viele Spuren aus, die schließlich zu verblüffenden Erkenntnissen führen.
Klett-Cotta, 22 EUR
(Stadtblatt 03/2021)
Von Hand zu Hand
Helen Weinzweig
Gesellschaftssatire
Eine Hochzeit in der feinen Gesellschaft Torontos. Vignetten in geschliffenem Stil lassen Einzelheiten aus dem
Leben der Anwesenden aufblitzen, sodass es beim Lesen nur allmählich gelingt, sich ein Bild von der Situation zu machen. Das Puzzle zeigt, was sich hinter den mühsam eingehaltenen Konventionen
verbirgt: ein schwuler Bräutigam, eine promiskuitive Braut, rachsüchtige Ex-Liebhaber, frustrierte Gattinnen, eine eingesperrte verrückte alte Frau und vieles mehr. Am Ende der Feier entschwindet
das Paar in ein freieres Leben. „,Bereit?‘ – ‚Bereit‘“, lauten die letzten Worte des Textes. Die 1915 in Warschau geborene Autorin debütierte 1973 mit diesem Roman und gilt als eine der
wichtigsten Autorinnen Kanadas und literarisches Vorbild z.B. von Margaret Atwood. Lesenswert ist auch das Nachwort des Lektors James Polk: Er solle den Papierstapel in die Luft werfen und dann
alles in zufälliger Reihenfolge drucken, habe ihm die Autorin geraten, die literarisch hoch gebildet und eine Anhängerin des Nouveau Roman war.
Ü: Hans-Christian Oeser
Wagenbach, 20 EUR
(Stadtblatt 01/2021)
Die Gespenster von Demmin
Verena Kessler
Schatten der Vergangenheit
Der Reiz dieses Romans liegt in dem schnoddrigen Ton, in dem Protagonistin Larry vom Aufwachsen in einer Kleinstadt mit bitterer Vergangenheit erzählt: „… wenn ich die Sonne wäre, würde ich auch lieber woanders scheinen.“ In den letzten Kriegstagen 1945 kam es in Demmin (Meck-Pomm) aus Angst vor der Roten Armee zu einem Massensuizid. In Larrys Berufswunsch spiegeln sich die vergrabenen Erinnerungen wider: Sie will Kriegsreporterin werden und übt sich im Ertragen von Schmerzen. „Wer aushalten kann, muss vor gar nichts Angst haben“ – ein Satz, der auch von Larrys Kontrastfigur Frau Dohlberg stammen könnte. Die gehört zu den Überlebenden und wird vor dem Umzug ins Altenheim erneut mit ihren Erinnerungen konfrontiert, sodass sie eine dramatische Entscheidung trifft. Altklug und sehr amüsant erzählt Larry außerdem von Jobs und Freundinnen, erster Liebe und von den seltsamen Lovern ihrer Mutter: „Der Mann ist also Keksexperte. Sonst noch was?“ – Unbedingte Leseempfehlung!
Hanser, 22 EUR
(Stadtblatt 12/2020)
Männer in Kamelhaarmänteln
Elke Heidenreich
Rosenhosen
Elke Heidenreich, ein Star in der Bücherwelt, öffnet die Schrankfächer ihrer Erinnerung und holt funkelnde, oft überraschende Anekdoten heraus. Da ist der Mann im Café, der Lederschuhe und Kaschmirpulli trägt und zum Objekt der Begierde wird, bis die Beobachterin sieht, in welches Buch er vertieft ist … Da ist die Autorin selbst, die 2008 im einzigen „guten Kleid“ ihrer Mutter - geschneidert 1935, die Mottenlöcher mit einem Jäckchen kaschiert - den Eröffnungsvortrag bei den Salzburger Festspielen hält und zufällig einen Dialog belauscht, der nicht für ihre Ohren bestimmt ist. „Männer in Kamelhaarmänteln“ mag die Autorin nicht, weil ihr eleganter, stets unzuverlässiger Vater solche Mäntel trug. Neben Erinnerungen gibt es Fiktives, und auch an berühmte Kleider der Filmgeschichte wird erinnert. Was auf den ersten Blick wie eine Aufgabenstellung für Kreatives Schreiben wirken mag, wird durch Heidenreichs Ton und ihre Fantasie zu einem spannenden Vergnügen. Manchmal blitzt Else Stratmann auf: „Der traut sich ja immer was“, der Travolta.
Hanser, 22 EUR
(Stadtblatt 12/2020)
Wie alles kam
Paul Maar
Erinnerungspfützen
Der Autor des berühmten Sams führt in heiterer, lebendiger Sprache ganz nah heran an seine Kindheit in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Wie bei vielen Kindern der Dreißiger- und Vierzigerjahre ist sie geprägt vom „langen Schatten meines Vaters“, so eine Kapitelüberschrift. Aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, ist Eduard Maar hart und ungnädig; er schlägt seine Söhne, erträgt keine Schwäche und missbilligt – natürlich! - Pauls Leseleidenschaft. Maars Kindheit in Unterfranken bildet das Zentrum dieser romanhaften Autobiografie, die durch einprägsame und bisweilen skurrile Bilder glänzt. Bereits der Vierjährige besitzt eine lebhafte Fantasie, sieht z.B. am Anfang der Erzählung einen Schwarm Fische durch sein Zimmer schweben und findet nur mühsam in die Realität zurück – eine Fähigkeit, die er später als Puffer gegen das zuweilen trostlose Familienleben nutzen wird. Maar erzählt außerdem aus seinem Leben als Erwachsener und von den Anfängen seines Schreibens. Wer wissen will, wer das Vorbild für Herrn Taschenbier war, wird hier fündig.
S. Fischer Verlag, 22 €
(Stadtblatt 11/2020)
Margos Töchter
Cora Stephan
Zwischen Ost und West
Janas Adoptivmutter Leonore ist vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und Jana bezweifelt längst, dass es tatsächlich Suizid war. Darum beantragt sie nach dem Mauerfall Einsicht in Leonores Stasi-Akte. So erfährt sie von der schicksalhaften Verbindung ihrer Adoptivmutter und ihrer leiblichen Mutter Clara. In dem Blumenkind Leonore spiegelt sich die westdeutsche Geschichte vom Deutschen Herbst bis zum Mauerfall, Leonores Jugendfreundin Clara hingegen verkörpert das Wertesystem der DDR und arbeitet als Erwachsene im Westen für die Stasi – die sich als Krake mit erschreckend langen Armen erweist. Stephan lässt in präziser, bisweilen bissiger Sprache eine gesellschaftliche Atmosphäre lebendig werden, an die sich viele Leser noch gut erinnern werden. Der Roman ist auch ohne den Vorgängerband “Ab heute heiße ich Margo“ lesbar, die ergänzende Lektüre vertieft jedoch das Verständnis, denn die Geschichte führt weit ins 20. Jahrhundert zurück. Kleines Schmankerl: Wesentliche Teile der Handlung spielen in Osnabrück und Umgebung.
Kiepenheuer & Witsch, 22 EUR
(Stadtblatt 10/2020)
Ach, Virginia
Michael Kumpfmüller
Zerbrechliches Genie
Stoßseufzer entlockt einem die Lektüre dieses Romans über die geniale, aber schwer depressive Schriftstellerin Virginia Woolf. Die Erzählerin vergleicht ihr Leben mit einem Interkontinentalflug, und im März 1941 befindet sie sich bereits im Landeanflug, denn am 28. ertränkt sich Woolf im Fluss Ouse. „Zorn“ heißt der erste Teil des Romans, in dem sie wütend, gehässig und hochmütig über ihr Leben nachdenkt, über ihren Mann, die missbrauchenden Brüder, den Krieg, die Isolation auf dem Land … Der Abschiedsbrief ist geschrieben, doch der erste Suizidversuch scheitert. Und so beginnt im zweiten Teil die Zeit der Resignation. Zwischen Gefühllosigkeit und „Heulerei“ geht Woolf in ihren „Seelenräumen“ spazieren und nimmt Abschied. Beim zweiten Versuch sind die Steine in den Manteltaschen schwer genug. Kumpfmüller macht den fließenden Übergang zwischen Gesundheit und Krankheit erfahrbar, die brutale Egozentrik der Depression und ihre Auswirkungen auf die Mitmenschen. Ein trauriger Roman, der neugierig macht auf das zerbrechliche Genie der Virginia Woolf.
Kiepenheuer & Witsch, 22 Euro
(Stadtblatt 9/2020)
Das Gewicht der Worte
Pascal Mercier
Polyglotte Wellness
Es klingt vielversprechend: Simon Leyland , Übersetzer, ist seit seiner Kindheit von Sprachen fasziniert. Mit seiner Frau Livia geht er von London nach Triest, weil sie dort einen Verlag geerbt hat. Als ihn eine falsche Krebsdiagnose zwei Monate lang in dem Glauben lässt, sein Leben nähere sich dem Ende, beschließt er, seine eigene Stimme zu finden und Schriftsteller zu werden. So weit, so gut. Aber dann kommen Sätze wie dieser: „Die Londoner nannten sie the tube“ und umreißen den dürren Weltbezug der Geschichte. „Sie spürten die Dinge einfach“, heißt es an anderer Stelle raunend. Trotz schlüssiger Handlung und hoher Reflektiertheit haftet diesem Roman etwas Nebulöses an: Ein feinsinniger Protagonist gibt sich ausschweifenden Gedanken über Sinn und Sterblichkeit hin, und vieles, was auf der Erzählebene vorkommt, wiederholt sich noch dazu in Leylands Briefen an seine Frau. Interessant allerdings der Blick des Übersetzers auf die Sprache, sein Sich-Herantasten an den passenden Ausdruck, der sinnliche Umgang mit Lauten und Bedeutungsnuancen.
Hanser 26 Euro
(Stadtblatt 9/2020)
M. Der Sohn des Jahrhunderts
Antonio Scurati
Prototyp des Populisten
Die Geschichte des italienischen Faschismus aus Tätersicht erzählt der Mailänder Medientheoretiker und Schriftsteller Antonio Scurati. Auf 830 Seiten schildert der erste von drei geplanten Bänden den Aufstieg Mussolinis von der Gründung der Kampfbünde 1919 bis zur Ermordung Matteottis und dem Beginn der Diktatur 1924. Der Roman erzählt detailreich von Größenfantasien, politischen Zweckbündnissen und davon, wie der Erfinder des Faschismus die gewaltbereite Verzweiflung ehemaliger WK-I-Soldaten für seine politischen Ziele auszunutzen verstand. Jedes Kapitel endet mit einem Dokument, das die historische Richtigkeit bezeugt, zudem gibt es ein Register der maßgeblichen Persönlichkeiten jener Epoche. Der fiktional ausgestaltete und von Verena von Koskull stilsicher übersetzte Roman über die „Ära des Schwanzes“ (Carlo Emilio Gadda) ist ein Zwischending aus Dokumentation und Roman, liest sich aber ausgesprochen flüssig. 2019 in Italien mit dem Premio Strega ausgezeichnet, ist er auch für deutsche Leser erstaunlich aktuell.
Klett-Cotta, 32 Euro
(Stadtblatt 8/2020)
Fehlstart
Marion Messina
Frau Houellebecq
Houellebecq hat eine Erbin, heißt es vielerorts im Feuilleton. Und tatsächlich schreibt auch Marion Messina
illusionslos über die Ödnis des Lebens einer verlorenen Generation, in dem Sex das „einzig Echte“ ist und über einen öden Alltag ohne Sinn und Perspektive hinwegtäuschen soll. Ihre erste Liebe
schenkt Aurélie ein berauschendes Gefühl von Lebendigkeit. Als die Beziehung zu Alejandro scheitert, verlässt die Studentin aus einfachen Verhältnissen Grenoble, den „Kessel der Eintönigkeit“,
und sucht ihr Glück in Paris. Was sie findet, sind „ein Höllenrhythmus“, unbezahlbare Wohnungen und zum Scheitern verurteilte Beziehungen. Der schmale Roman zeigt beispielhaft, dass in der
Literatur das Wie wichtiger ist als das Was und triste Sujets so spannend machen kann wie einen Krimi: „… die Luft schmeckte nach Asche und Aluminium. Sie war zwanzig Jahre alt.“ Selten wurde so
unterhaltsam über die B-Seite des Lebens geschrieben (fein übersetzt von Claudia Steinitz). Großes Kino! Und so fängt es an: "Alejandro war mit dem trockenen Mund und dem Halbsteifen eines
verkaterten Morgens aufgewacht."
Hanser Verlag, 18 Euro
(Stadtblatt 4/2020)
Andere Leute
Dorota Masłowska
High Energy
Ganze 160 Seiten hat dieser Roman, und das ist gut so. In einem stakkatohaften, vor Energie und Einfällen nur so
strotzenden Rap, der bei längerem Lesen anstrengend würde, entlädt sich der Druck, den der längst kapitalistische Moloch Warschau auf seine Bewohner ausübt. Ein sprachgewaltiges Kaleidoskop
menschlicher Kaputtheit entfaltet sich: Kamil, Kleindealer mit drogenbedingten „Löchern im Kopf“ und dem brennenden Wunsch, eine Rap-CD aufzunehmen, begegnet der reichen Iwona, die ihn diskret
für seine Liebesdienste bezahlt. Sie speichert ihn im Handy unter „Klospülung“ ab, während Kamils vernachlässigte Freundin „ihm den Kopf mit einem Bewusstseinsstrom“ wäscht und ihre „spezifische
Anettigkeit“ dabei vergisst. Ob Villa oder Plattenbau: Alle in diesem Roman sind getrieben, ohne je vom Fleck zu kommen. Szenisch und zynisch geht es zu, fäkal- und jugendsprachlich. Olaf Kühl,
selbst Romanautor, hat Masłowskas kraftvoll-wütende Sprache virtuos ins Deutsche übertragen.
Rowohlt Berlin, 18 EUR
(Stadtblatt 2/2020)
Brief an Matilda
Andrea Camilleri
Erzähltes Leben
Camilleris letztes Buch ist eine Lebensbeschreibung für seine vierjährige Urenkelin Matilda, die unter seinem Schreibtisch spielen durfte, und zugleich eine Chronik der letzten neunzig Jahre. Unprätentiös und mit spürbarer Zuneigung erzählt er ihr von beruflichem und politischem Engagement und von familiären Versäumnissen. Der Sizilianer Camilleri (1925 - 2019) thematisierte in seinen Krimis um Commissario Montalbano häufig mafiöse Strukturen und Korruption. Vor seinem Durchbruch hatte er mehrere Jahrzehnte lang als Drehbuchautor und Regisseur gearbeitet. Camilleri war ein widerständiger, von den -ismen des 20. Jahrhunderts enttäuschter Mensch. Er besaß einen scharfen Blick für Ungerechtigkeiten und den Mut, Stellung zu beziehen. Auf anfängliche Begeisterung folgte die Abkehr des Jugendlichen vom Faschismus, später die Distanzierung des Erwachsenen vom Kommunismus sowjetischer Prägung. Der „Brief an Matilda“ (Ü: Annette Kopetzki) ist ein Abschied und zugleich eine Brücke in die Zukunft: „Und jetzt erzähl mir von dir“, lautet der letzte Satz.
Kindler, 20 Euro
(Stadtblatt 2/2020)
Ein Ehebruch
Edoardo Albinati
Anachronistisch
„Ich habe mich dem Ehebruch gewidmet, um die ‚Katholische Schule‘ loszuwerden …“ Das sagt der Autor über diesen schmalen Roman, der auf sein preisgekröntes Monumentalwerk über verklemmte Sexualmoral, Gewalt gegen Frauen und deren vermeintlichen Ursprung im Katholizismus folgt. Um es gleich zu sagen: Es gelingt ihm nicht. Obwohl Erri und Clementina auf ihrem heimlichen Inselwochenende zu zweit ständig übereinander herfallen, bleiben die Beschreibungen der Erotik farblos und unglaubwürdig. Mit kühler, eleganter Sprache (fein übersetzt von Verena v. Koskull) soll heiße Leidenschaft beschworen werden, deutlich wird jedoch nur, dass die beiden Protagonisten einander fremd bleiben: Wie soll es nach dem Liebeswochenende im realen Leben weitergehen? Darüber denkt jeder für sich im Stillen nach, zu einem Gespräch kommt es nicht. Die Überlegungen streifen immer wieder den Kitsch: „Es war denn auch nicht die Furcht zu ertrinken, sondern eine tiefere Angst.“ Tiefer als die Angst vorm Tod ist die des Sünders vor der Hölle.
Berlin Verlag, 20 Euro
(Stadtblatt 1/2020)
Das Institut
Stephen King
The Master is Back
Der zwölfjährige Luke Ellis wird nachts aus seinem Zuhause in Minneapolis entführt, seine Eltern dabei getötet. Der Junge landet in einem geheimen Institut, in dem Bürokraten grausame Experimente an paranormal veranlagten Kindern durchführen. Noch nie konnte jemand dieser Hölle entfliehen. Ganz normale Bewohner einer Kleinstadt - typische „mittlere Helden“ à la King – werden in den Kampf zwischen Gut und Böse und die Befreiung der Kinder hineingezogen. Auch in diesem Roman erweist sich King wieder als Großmeister der Spannung. Er reiht Cliffhanger an Cliffhanger und schreckt beim Plot weder vor großen Würfen noch vor bizarren Ideen zurück. Dabei gelingt es ihm erneut, „das Unmögliche plausibel zu machen“, wie es im Nachwort heißt. Mehr noch: Es klingt verdammt wahrscheinlich. Und immer lässt sich der übersinnliche Horror des Trump-Kritikers auch als Chronik Amerikas lesen. 768 Seiten Suchtfutter in der gelungenen Übersetzung von Bernhard Kleinschmidt - ein Must-have für alle Fans.
Heyne, 26 Euro
(Stadtblatt 12/2019)